Sonntag, 4. Mai 2014

Mutterseelenallein

Es gibt Wörter, die man eigentlich nicht steigern kann. Denken wir an jemanden, der allein ist: Allein ist allein, fertig, man kann nicht "alleiner" sein oder "alleinst". Jedenfalls nicht im grammatikalischen, objektiven Sinne. Wenn ich mich frage, wie es subjektiv in meiner Seele aussieht, dann kann ich durchaus allein sein, sehr allein, völlig allein, so allein wie sonst niemand auf der ganzen Welt usw. Das ist eben der Unterschied zwischen Grammatik und Leben, zwischen Logik und Psychologie.

Auf deutsch haben wir ein wunderbares Wort, um einen Zustand völliger Verlassenheit auszudrücken: mutterseelenallein. Mutter – Seelen – allein. Ist es nicht herzzerreißend? Wer mutterseelenallein ist, den hat der Mensch verlassen, der am meisten Schutz im Leben gibt, und sogar die Seele, das Leben selbst, scheint sich davon gemacht zu haben. Mutterseelenallein, ein ganz und gar verzweifelter Zustand.

Man fragt sich wirklich, welcher Poet hat dieses Wort ersonnen, welcher feinfühlige Psychologe hat es erdacht? Aber wir wissen ja, Wörter werden nicht ausgedacht und festgelegt, sondern entstehen im Verborgenen. Hinter diesem traurigen Wort verbirgt sich eine ganz nette Geschichte. Entstanden ist es in Berlin, wieder einmal, und seine Quelle ist französisch. Im 17., 18. Jahrhundert kamen ja viele französische Protestanten, die Hugenotten, nach Berlin und Brandenburg ins Exil.

Wahrscheinlich fühlten sie sich dort ziemlich einsam, denn die Wendung "moi tout seul" – "ich ganz allein" wurde offenbar sehr häufig gebraucht, so häufig, dass die Berliner sie übernahmen und gleich noch die deutsche Übersetzung von "seul" – "allein" hinten dranhängten. So entstand "moi tout seul allein". Nun konnten die Menschen auf der Straße ja nicht alle gleichgut französisch, und deswegen ersetzten sie im Gebrauch diese merkwürdigen Wörter durch andere, die ihnen vertrauter waren. So wurde "moi tout seul allein" zu "mutterseelenallein", diesem so anrührenden Wort, das eine Sprache allein ganz sicher gar nicht hätte hervorbringen können.

Text: Hinrich Schmidt-Henkel
http://www.arte.tv/de/wissen-entdeckung/karambolage/Diese_20Woche/1146152.html

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