Sonntag, 23. März 2014

Staunen

Der See, die Bäume und die Häuser sind von Eis und dickem Raureif überzogen. Dieser Anblick veranlasst eine Frau zu dem staunenden Ausruf: "Da sieht man richtig den Frost!" Ihr Begleiter dagegen kommentiert nüchtern: "Ich sehe nur, dass der See zugefroren ist." Sieht man einmal von naheliegenden Deutungen wie einer gestörten Beziehung, schlechter Laune oder sprachlichen Spitzfindigkeiten ab, scheint diese Szene typisch zu sein für eine rollenspezifische Arbeitsteilung. Die Frau ist kompensatorisch "als Frau" für romantische Gefühle zuständig, der Mann dagegen "als Mann" für das unmittelbar Praktische und Greifbare. Über alle rollenspezifischen Differenzen hinaus aber leben wir alle, ob Frau oder Mann, in einer wissenschaftlich-technischen Welt, die allem und jedem nur durch menschliches Messen, Zählen und Wiegen einen Sinn verleiht.

Der Soziologe Max Weber spricht in seiner berühmten Rede "Wissenschaft als Beruf" (1917) von einer "entzauberten Welt", in der "prinzipiell keine geheimnisvollen, unberechenbaren Mächte" mehr gelten, sondern "alle Dinge - im Prinzip - durch Berechnen" beherrschbar sind. In ihr bleibt kein Platz mehr für etwas, über das wir wirklich staunen können, einfach so. In der "entzauberten Welt" bleiben für ein zweckfreies Staunen höchstens vereinzelte Momente für Verliebte, Dichter, fromme Seelen, einfache Gemüter oder Spinner und Kinder übrig. Der Realist oder der Mann von Welt dagegen lässt sich durch nichts aus der Fassung bringen.
Coolness gilt für die Jugendlichen als Zeichen des Erwachsenseins, der perfekten Selbst- und Weltbeherrschung, wie sie die Film- und Computerhelden vormachen. So richtig staunen, "baff" oder "außer sich sein" und innehalten gilt als sentimental oder versponnen.

Dennoch verbirgt sich für viele Erwachsene in den "staunenden Kinderaugen" ein Rest ihrer eigenen, oft verschütteten, von der sogenannten realistischen Weltsicht abgeschnittenen Sehnsucht nach einer Welt, in der es für ihre Seele wieder etwas zu staunen und innezuhalten gibt.

Ekkehard Martens, Professor für Didaktik der Philosophie an der Universität Hamburg
"Vom Staunen oder Die Rückkehr der Neugier"
http://de.wikipedia.org/wiki/Wissenschaft_als_Beruf

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