Donnerstag, 27. März 2014

Menschen getroffen

Ich habe Menschen getroffen, die
wenn man sie nach ihrem Namen fragte,
schüchtern – als ob sie gar nicht beanspruchen könnten,
auch noch eine Benennung zu haben –
»Fräulein Christian« antworteten und dann:
»wie der Vorname«, sie wollten einem die Erfassung erleichtern,
kein schwieriger Name wie »Popiol« oder »Babendererde« –
»wie der Vorname« – bitte, belasten Sie Ihr Erinnerungsvermögen nicht!

Ich habe Menschen getroffen, die
mit Eltern und vier Geschwistern in einer Stube
aufwuchsen, nachts, die Finger in den Ohren,
am Küchentisch lernten,
hochkamen, äußerlich schön und ladylike wie Gräfinnen –
und innerlich sanft und fleißig wie Nausikaa*
die reine Stirn der Engel trugen.

Ich habe mich oft gefragt und keine Antwort gefunden,
woher das Sanfte und das Gute kommt,
weiß es auch heute nicht und muß nun gehen.

Gottfried Benn

*Nausikaa ist in der griechischen Mythologie die Tochter des phaiakischen Königs Alkinoos und seiner Frau Arete. Sie wäscht mit anderen Mädchen am Strand die Wäsche; danach essen sie und fangen an zu spielen. In dieser Szene erscheint plötzlich ein Schiffbrüchiger, vor dem sich die anderen Mädchen fürchten. Nausikaa aber hat keine Angst. Sie gibt ihm zu essen und Kleidung. Danach bringt Nausikaa ihn an den väterlichen Hof, wo er sich während des Gastmahls als Odysseus zu erkennen gibt und einen Bericht seiner Irrfahrten gibt. 

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