Sonntag, 2. Februar 2014

Mir fehlt ein Wort

Ich werde ins Grab sinken, ohne zu wissen, was die Birkenblätter tun. Ich weiß es, aber ich kann es nicht sagen. Der Wind weht durch die jungen Birken; ihre Blätter zittern so schnell, hin und her, dass sie ... was? Flirren? Nein, auf Ihnen flirrt das Licht; man kann vielleicht allenfalls sagen: die Blätter flimmern... aber es ist nicht das. Es ist eine nervöse Bewegung, aber was ist es? Wie sagt man das? Was man nicht sagen kann, bleibt unerlöst - "besprechen" hat eine tiefe Bedeutung. Steht bei Goethe "Blattgeriesel"? Ich mag nicht aufstehen, es ist so weit bis zu den Bänden, vier Meter und hundert Jahre.
Was tun die Birkenblätter - ?


(Chor): "Ihre Sorgen möchten wir... Hat man je so etwas... Die Arbeiterbewegung... macht sich da niedlich mit der deutschen Sprache, die er nicht halb so gut schreibt wie unser Hans Grimm..." Antenne geerdet, aus.
Ich weiß: darauf kommt es nicht an; die Gesinnung ist die Hauptsache; nur dem sozialen Roman gehört die Zukunft; und das Zeitdokument - oh, ich habe meine Vokabeln gut gelernt. (.......)
Was tun die Birkenblätter - ? Nur die Blätter der Birke tun dies; bei den anderen Bäumen bewegen sie sich im Winde, zittern, rascheln, die Äste schwanken, mir fehlt kein Synonym, ich habe sie alle. Aber bei den Birken, da ist es etwas andres, das sind weibliche Bäume - merkwürdig, wie wir dann, wenn wir nicht mehr weiterkönnen, immer versuchen, der Sache mit einem Vergleich beizukommen; es hat ja eine ganze österreichische Dichterschule gegeben, die nur damit arbeitete, dass sie Eindrücke des Ohres in die Gesichtssphäre versetzte und Geruchsimpressionen ins Musikalische - es ist ein amüsantes Gesellschaftsspiel gewesen, und manche haben es Lyrik genannt. Was tun die Birkenblätter? Während ich dies schreibe, stehe ich alle vier Zeilen auf und sehe nach, was sie tun. Sie tun es. Ich werde dahingehen und es nicht gesagt haben.

Kurt Tucholsky 1929

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