Mittwoch, 30. Oktober 2024

Brustbeutel

Früher war der Brustbeutel treuer Begleiter der Kinder. Er barg Schlüssel, ein Taschentuch, bunte Steinchen. Heute quillt Unrat aus unzähligen textilen Ausstülpungen...

Der Brustbeutel wogte auf dem Herzen wie ein mit unentbehrlichen Habseligkeiten beladenes Schiffchen. Jede Empfindung sog er auf, um sie in seinem Innern zu bewahren.
Denn wer ist dem Herzen jemals so nah wie der Brustbeutel?

Aber wie sein Träger, so kommt auch ein Brustbeutel in die Jahre. Ist erst die Zeit gekommen, in der man sich nicht mehr nach bunten Steinchen bückt, umweht ihn der Geruch von Peinlichkeit. So schlafen wohl viele alte Brustbeutel in Schubladen oder hängen wie Fledermäuse an rostigen Nägeln.

Brustbeutel: Was für ein gutes Wort !
Man muss es nur aussprechen, sogleich ist einem wieder wohl zumute.

Brustbeutel von Heike Kunert

Montag, 28. Oktober 2024

Blumenvogel

Blumenvogel
mein Doppelgedicht
stachelbefiedert
fliegt manchmal
in den Himmel
hat eine verzweifelte Stimme
moll
dur
wie ein Vogel
nach Liebe ruft
wie eine Blume
sich wehrt und öffnet
im Licht

Rose Ausländer
https://de.wikipedia.org/wiki/Rose_Ausl%C3%A4nder

Meine Mama wäre heute 98 Jahre alt geworden...

Samstag, 26. Oktober 2024

Seligkeiten

Weshalb kann man nicht

das ganze Leben hindurch

die Fähigkeit bewahren,

Erde und Gras

und rauschenden Regen

und Sternenhimmel

als Seligkeiten zu erleben.

Astrid Lindgren

Ja, warum eigentlich nicht? Vielleicht käme es nur auf einen Versuch an, diese Fähigkeit immer wieder neu zu trainieren, egal in welchem Lebensalter. Wir können sie auch den Kindern abschauen - und heute schon damit beginnen...

Donnerstag, 24. Oktober 2024

Sich Zeit nehmen


"Bitte lieber Gott, betete ich, lass mich einfach mal wieder trödeln
und mir Zeit nehmen."

PETER E. SCHUMACHER
1941-2013 - deutscher Publizist und Aphorismensammler
https://www.aphorismen.de/autoren/person/3387/peter%20e.%20schumacher


"Ich experimentiere gerade mit professionellem Nichtstun."

JUDITH HOLOFERNES
https://www.judith-holofernes.de/
https://de.wikipedia.org/wiki/Judith_Holofernes

Dienstag, 22. Oktober 2024

Innehalten

 "Wir können die Zeit nicht anhalten,

aber innehalten können wir zu jeder Zeit."

KURT HABERSTICH

Sonntag, 20. Oktober 2024

Der Willkommensteppich

Was für eine schöne Vorstellung :

"Sich selbst den Willkommensteppich ausrollen".

Dieser Willkommensteppich ist ein innerer Ort, an dem du dich niederlassen und bei dir selbst ankommen kannst - egal, wie es dir gerade geht.

An diesem Ort gibt es nichts, was du tun oder leisten müsstest - es gibt nichts zu erledigen.
Du musst nicht gut sein, und du musst auch keinerlei Erwartungen erfüllen.

Niemanden musst du es recht machen,
noch nicht einmal dir selbst.

Lienhard Valentin
Die Kraft des Selbstmitgefühls - kailash Verlag

Freitag, 18. Oktober 2024

Ja sagen

Es hat etwas wunderbar Kühnes und Befreiendes,
"JA" zu unserem gesamten unvollkommenen und chaotischen Leben zu sagen.

Tara Brach
https://en.wikipedia.org/wiki/Tara_Brach


Mittwoch, 16. Oktober 2024

Sei für dich

Wenn ich nicht für mich bin,

wer ist dann für mich ?

Wenn nicht jetzt, wann sonst ?


Rabbi Hillel


Montag, 14. Oktober 2024

Identität

Wir sind so gepolt, dass wir, wenn wir um das trauern, was wir verloren haben,
auch um uns selbst trauern.
Um uns, wie wir waren.
Um uns, wie wir nicht länger sind.
Um uns, wie wir eines Tages gar nicht mehr sein werden.

Joan Didion

Samstag, 12. Oktober 2024

Der Sommer ihres Lebens

Die Graphic Novel "Der Sommer ihres Lebens" ist etwas ganz besonderes, denn sie thematisiert wohl erstmals im Comic-Genre den Alltag im Seniorenheim. Alter und Tod sind für viele Menschen sensible und auch beängstigende Themen, über die nur sehr ungerne nachgedacht, geschweige denn gesprochen wird.

Der Alltag im Seniorenheim wird hier realistisch dargestellt, ohne zu sehr ins Detail zu gehen. Er bietet dennoch einen ungeschönten Einblick und zeigt, wie alte Menschen mit einer derart einschneidenden Veränderung im Alter zurechtkommen müssen, welche Dinge für sie an Wert verlieren und welche an Wert gewinnen.

Darüber hinaus geht es auch um den eigenen Lebensrückblick und um die Beantwortung der Frage "Hattest du ein glückliches Leben?" Und so denkt Gerda zurück - an ihre Jugend in den 1960er Jahren, ihre Begeisterung für ein Fach, in der sie als Frau schief angesehen wurde, die Astrophysik; die harte Wahl, die sie treffen musste, in jenem Sommer ihres Lebens: zwischen ihrer Liebe zu Peter und einer Karriere im Ausland...

"Der Sommer ihres Lebens" hat mich ungemein berührt, weil es der Zusammenarbeit einer Zeichnerin und eines Autors zu verdanken ist, dass ein so schwieriges Thema auf eine kongeniale und faszinierende Weise graphisch experimentell und dabei stimmig erzählt wird, so dass man diesem Buch viele Leser*innen wünscht. Allerdings braucht es wohl einen persönlichen Bezugspunkt: Vielleicht, weil die eigenen Eltern alt werden, vielleicht, weil uns selber ab einem bestimmten Alter bewusst wird, was auf fast alle von uns noch zukommen wird...


Donnerstag, 10. Oktober 2024

Sich verlieren

"Was heißt: dich verlieren? Was ist der Maßstab?" fragt Sarah.

"Der Maßstab - das sind all die Dinge, durch die ich mich definiert habe.
Die meine seelische Identität ausgemacht haben.
" antwortet Bernhard.

"Zum Beispiel?"

"Die Fähigkeiten der Wahrnehmung. Es gibt Verluste, die ich akzeptieren könnte.
Der Verlust von Musik bei Taubheit wäre schlimm, aber sonst könnte ich mich in einer stillen Welt einrichten. Aber ich will uneingeschränkt lesen können. Blindheit wäre das Ende. Auch der Verlust von Orientierung. Wenn ich nicht mehr allein heimfände und nicht mehr wüsste, wo ich bin in Raum und Zeit. Das würde Ohnmacht bedeuten, den Verlust von Selbstständigkeit, Abhängigkeit."

"Ich würde dir helfen, würde alles dransetzen, dir den Verlust erträglich zu machen."
 
"Einen solchen Verlust kann man nicht erträglich machen. Niemand kann das."

 (...)

Und gar nicht reden wollen wir davon, dass bei einem solchen Verfall irgendwann die Kontrolle über die Körperfunktionen verloren geht. Auch über die Ausscheidungen.
Auch das möchte ich nicht erleben.

Weißt du: Ich möchte nicht auf einem Niveau weiterleben, dass unter dem liegt, das ich stets zu erreichen und zu halten bemüht war. Das Niveau, das meinem Leben seinen Sinn gab.
Ich möchte nicht auf eine schiefe Ebene geraten, auf der ich Niveau und Sinn ständig nach unten korrigiere, bis davon nichts mehr übrig ist.
Und das nur, um das Leben, das biologische Leben, immer weiter zu verlängern.

Ich möchte das nicht.
Ich möchte es einfach nicht.

Peter Bieri "Eine Art zu leben - Über die Vielfalt menschlicher Würde"
https://de.wikipedia.org/wiki/Peter_Bieri

Dienstag, 8. Oktober 2024

Ach

Ach, noch in der letzten Stunde
werde ich verbindlich sein.
Klopft der Tod an meine Türe,
rufe ich geschwind: Herein!

Woran soll es gehn? Ans Sterben?
Hab ich zwar noch nie gemacht,
doch wir werd'n das Kind schon schaukeln -
na, das wäre ja gelacht!

Interessant so eine Sanduhr!
ja, die halt ich gern mal fest.
Ach - und das ist Ihre Sense?
Und die gibt mir dann den Rest?

Wohin soll ich mich jetzt wenden?
Links? Von Ihnen aus gesehn?
Ach, von mir aus! Bis zur Grube?
Und wie soll es weitergehn?

Ja, die Uhr ist abgelaufen.
Wollen Sie die jetzt zurück?
Gibt's die irgendwo zu kaufen?
Ein so ausgefall'nes Stück

Findet man nicht alle Tage,
Womit ich nur sagen will
- ach! Ich soll hier nichts mehr sagen?
Geht in Ordnung! Bin schon

Robert Gernhardt
https://de.wikipedia.org/wiki/Robert_Gernhardt

Sonntag, 6. Oktober 2024

Würde

Unser Leben als denkende, erlebende und handelnde Wesen
ist zerbrechlich und stets gefährdet - von außen wie von innen.

Die Lebensform der Würde ist der Versuch, diese Gefährdung in Schach zu halten.

Es gilt, unser stets gefährdetes Leben selbstbewusst zu bestehen.

Peter Bieri "Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde"

Freitag, 4. Oktober 2024

Mittwoch, 2. Oktober 2024

Patina

Patina - die Ästhetik des Reifens  

Das Wort Patina (italienisch patina, "dünne Schicht", Firnis) ist eine durch natürliche oder künstliche Alterungsprozesse entstandene Oberfläche und kann sich auf die Farbe oder Struktur beziehen. Die Patina gilt somit als Beweis für das Alter eines Objekts.

Ölbilder patinieren, wir kennen Patina an Metallen, vor allem als Grünfärbung vieler kupfergedeckter Kirchtürme. Eines der bekanntesten Beispiele der Kupferpatina ist die Freiheitsstatue. Auf natürlichem Weg entsteht die Patina über eine chemische Reaktion der Schwebteilchen in der Luft mit den Teilchen, auf denen sie sich ablagern. 

Und nicht zu vergessen ist, dass mit Patina auch der Alterungsprozess des Leders bezeichnet wird, der unvorhersehbar und ganz sanft stattfindet und den Ledertaschen und Federmäppchen Leben und Charakter verleiht. Kleinste Berührungen können diesen Prozess auslösen. Das natürliche Öl der Haut, Reibung, Oxidation, Temperaturunterschiede, Sonne und Regen - alles trägt zur langsamen Veränderung der Lederoberfläche bei und lässt sie reifen.

Und das gilt wohl alles nur für Objekte ? Subjekte, wie du und ich, die altern dagegen einfach nur so vor sich hin - gänzlich ohne Patina ? Ganz ohne die Ästhetik des Reifens, ohne den Zugewinn von Leben und Charakter ???

So ein Schmarrn - ab jetzt beanspruche ich das schöne Wort Patina auch für meinen äußerlichen Alterungsprozess ! 😎😉