Donnerstag, 10. Oktober 2024

Sich verlieren

"Was heißt: dich verlieren? Was ist der Maßstab?" fragt Sarah.

"Der Maßstab - das sind all die Dinge, durch die ich mich definiert habe.
Die meine seelische Identität ausgemacht haben.
" antwortet Bernhard.

"Zum Beispiel?"

"Die Fähigkeiten der Wahrnehmung. Es gibt Verluste, die ich akzeptieren könnte.
Der Verlust von Musik bei Taubheit wäre schlimm, aber sonst könnte ich mich in einer stillen Welt einrichten. Aber ich will uneingeschränkt lesen können. Blindheit wäre das Ende. Auch der Verlust von Orientierung. Wenn ich nicht mehr allein heimfände und nicht mehr wüsste, wo ich bin in Raum und Zeit. Das würde Ohnmacht bedeuten, den Verlust von Selbstständigkeit, Abhängigkeit."

"Ich würde dir helfen, würde alles dransetzen, dir den Verlust erträglich zu machen."
 
"Einen solchen Verlust kann man nicht erträglich machen. Niemand kann das."

 (...)

Und gar nicht reden wollen wir davon, dass bei einem solchen Verfall irgendwann die Kontrolle über die Körperfunktionen verloren geht. Auch über die Ausscheidungen.
Auch das möchte ich nicht erleben.

Weißt du: Ich möchte nicht auf einem Niveau weiterleben, dass unter dem liegt,
das ich stets zu erreichen und zu halten bemüht war.
Das Niveau, das meinem Leben seinen Sinn gab.
Ich möchte nicht auf eine schiefe Ebene geraten,
auf der ich Niveau und Sinn ständig nach unten korrigiere,
bis davon nichts mehr übrig ist.
Und das nur, um das Leben, das biologische Leben, immer weiter zu verlängern.

Ich möchte das nicht.
Ich möchte es einfach nicht.

Peter Bieri "Eine Art zu leben - Über die Vielfalt menschlicher Würde"
https://de.wikipedia.org/wiki/Peter_Bieri

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