Sonntag, 16. November 2014

Tröstung

Es ist Herbst 1923 in Berlin. Ein kleines Mädchen sitzt weinend auf einer Parkbank.
Ihre Puppe ist plötzlich weg, dabei lag sie vorhin doch noch hier. Das Mädchen merkt erst nicht, dass plötzlich ein fremder Mann mit schwarzem Hut und abstehenden Ohren neben ihr steht. Er sagt, er heiße Franz und wenn sie wegen ihrer Puppe weine, dann könne sie ruhig damit aufhören, denn die Puppe sei nicht gestohlen worden, sie sei nur auf eine Reise gegangen, er habe sie vorhin an sich vorbeilaufen sehen.
Das Mädchen wird still, fragt, ob dies auch wirklich wahr sei. Natürlich sei es wahr, die Puppe habe ihm ja schließlich einen Brief an das Mädchen mitgegeben, er habe ihn nur leider zu Hause liegen lassen, erklärt Franz.

Der fremde Mann ist niemand anderes als der berühmte Schriftsteller Franz Kafka.
Und diese Briefe hat es tatsächlich gegeben !!!
Dora Diamant, eine junge Polin, die Kafka 1923 kennen lernt und mit der er schließlich in eine gemeinsame Wohnung in Berlin zieht, hat die Begegnung Kafkas mit dem kleinen Mädchen festgehalten:

"Er machte sich mit all dem Ernst an die Arbeit, als handelte es sich darum, ein Werk zu schaffen. Er war in demselben gespannten Zustand, in dem er sich immer befand, sobald er an seinem Schreibtisch saß, ob er nun einen Brief oder eine Postkarte schrieb. Es war übrigens eine wirkliche Arbeit, die ebenso wesentlich war wie die anderen, weil das Kind um jeden Preis vor der Enttäuschung bewahrt und wirklich zufriedengestellt werden wusste. Die Lüge musste also durch die Wahrheit der Fiktion in Wahrheit verwandelt werden. Am nächsten Tag trug er den Brief zu dem kleinen Mädchen, das ihn im Park erwartete. Da die Kleine nicht lesen konnte, las er ihr den Brief laut vor. Die Puppe erklärte darin, dass sie genug davon hätte, immer in derselben Familie zu leben, sie drückte den Wunsch nach einer Luftveränderung aus, mit einem Wort, sie wolle sich von dem kleinen Mädchen, das sie sehr gern hätte, für einige Zeit trennen. Sie versprach, jeden Tag zu schreiben – und Kafka schrieb tatsächlich jeden Tag einen Brief, indem er immer wieder von neuen Abenteuern berichtete, die sich dem besonderen Lebensrhythmus der Puppen entsprechend sehr schnell entwickelten. Nach einigen Tagen hatte das Kind den wirklichen Verlust seines Spielzeugs vergessen und dachte nur noch an die Fiktion, die man ihm als Ersatz dafür angeboten hatte." (...)

Bereits 1959 wurde über ein Steglitzer Stadtteilblatt der Versuch unternommen, das getröstete Mädchen und damit auch Kafkas Puppenbriefe wiederzufinden. 2001 hat der Kafka-Übersetzer Mark Harman diesen Versuch erneuert, blieb jedoch trotz beträchtlicher Resonanz in den Medien erfolglos.
http://www.franzkafka.de/franzkafka/fundstueck_archiv/fundstueck/457439 

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